Wir brauchen Freiheit!

  • 01. April 2023  – 
  • Rubikon

Wir brauchen Freiheit!

01.04.2023 – Rubikon

Wir brauchen Freiheit!

Roland Rottenfußer zerlegt auf 400 Seiten die „Strategien der Macht“ und zeigt, wie er trotz alledem an den Menschen glauben kann.

Die Armee, schreibt der Rubikon-Chefredakteur im Vorwort seines neuen Buchs, habe ihn zu einem „Freiheitsjournalisten“ gemacht (1). Ich habe die Uniform nur wenig später anziehen müssen als er und kann das gut verstehen, obwohl ich auf der anderen Seite gedient habe. Militär ist Militär, überall auf der Welt. Ich habe vor Mittzwanzigern gezittert, die ein Bier zur Staatsaffäre aufblasen konnten, weil sie einen Stern auf den Schulterstücken trugen, und jeden Morgen gehofft, dass der Hauptmann, noch nicht einmal 30, auf der Toilette erfolgreich ist, weil das einen Unterschied machte für den Tag des Soldaten Meyen.

Roland Rottenfußer ist in seiner Bundeswehrkaserne auf Erich Fromm gestoßen und hat bei ihm in einer anderen Sprache das gefunden, was er schon vorher bei Friedrich Schiller gelesen hatte oder bei George Orwell. Der Corona-Politik wirft er heute, fast 40 Jahre später, vor allem vor, „gegen Grundsätze verstoßen“ zu haben, die von diesen großen Denkern „lange vorher in sehr plausibler, ja begeisternder Form beschrieben worden waren“ (2).

Mit seinem Buch stellt sich Rottenfußer selbst in eine Reihe mit Fromm, Schiller, Orwell. Plausibel, ja begeisternd: Wer die Texte dieses „Freiheitsjournalisten“ kennt, wird wissen, dass es bei ihm mindestens noch zwei weitere Ebenen gibt. Roland Rottenfußer verbindet akademisches Wissen mit Weltliteratur und Populärkultur. Theater, Rockmusik, Hollywood: Er springt von einer Bühne auf die nächste, ohne dem Leser das Gefühl zu geben, dass da ein Lehrer schreibt, der ohnehin alles besser kennt als seine Schüler. Die Schätze der Menschheit sind größer als die kleinteilige Münze, die in wissenschaftlichen Fachzeitschriften gehandelt wird. Roland Rottenfußer macht Lust, danach zu graben, dabei dem eigenen Geschmack zu vertrauen und einen Film auch dann großartig zu nennen, wenn Rezensionen etwas anderes sagen. Und, mindestens genauso wichtig: Er setzt einen Link zur Spiritualität — so wenig aufdringlich, dass auch eingefleischte Materialisten weiterlesen können.

Das sollten auch die tun, die Fromm, Schiller, Orwell kennen. Die Freiheit, sagt Roland Rottenfußer, war schon lange vor Corona kein Thema mehr, weder in den Leitmedien noch auf dem Buchmarkt. Der Westen, na klar: Das ist die freie Welt. Wer das tagein, tagaus hört, spricht über alles Mögliche, aber nicht über das einzige, was zählt. Rottenfußer: „Das weitgehende Schweigen über die Freiheit — es hat mit der Coronakrise, man könnte fast sagen: zum Glück, ein Ende gefunden.“

Seine Definition von Freiheit: „in Ruhe gelassen werden“ (3). Etwas ausführlicher ein paar Zeilen vorher: „das Erleben, unbehelligt zu sein von Zurechtweisung, Drangsalierung und Strafandrohung, solange man selbst die Grundlagen einer natürlichen Ethik nicht verletzt“ (3). Diese scheinbar klitzekleine Bedingung macht ein Fass auf, keine Frage. Was kann „natürlich“ sein an einer Ethik, die von Menschen gemacht wurde? Woher wissen wir, dass wir noch im Rahmen sind, wo doch jeder dazu neigt, genau das richtig und angemessen zu finden, was er selbst tut?

Roland Rottenfußer, so viel sei hier schon gesagt, traut uns sehr viel zu — vor allem dann, wenn wir auf destruktive Macht, Strafen und Gewalt verzichten.

„Anarchie“ steht bei ihm nicht für „Chaos und Bombenwerferei“, sondern für das Vertrauen in uns, in die Menschen. David Graeber, einer seiner Kronzeugen: „Anarchisten sind einfach Leute, die glauben, dass Menschen in der Lage sind, sich vernünftig zu verhalten, ohne dass man sie dazu zwingen muss. Das ist wirklich ein sehr einfacher Gedanke. Aber es ist einer, den die Reichen und Mächtigen immer als extrem gefährlich empfunden haben“ (4).

David Graeber hatte das Schweigen über die Freiheit mit einem Paukenschlag beendet — gewissermaßen aus dem Jenseits, denn er war schon tot, als das Buch „Anfänge“ 2021 zunächst auf Englisch erschien mit dem Versprechen, „eine neue Geschichte der Menschheit“ zu schreiben (5). Graeber und David Wengrow, sein Co-Autor, schauen zu den Indigenen nach Nordamerika und finden dort ein Freiheitskonzept, das nicht nach dem Recht fragt, sondern nach der Wirklichkeit. Konkret: Was hilft die Erlaubnis zu reisen, wenn das Geld fehlt? Wer wird dem Vorgesetzten widersprechen, wenn er einen Job braucht? Die „drei Grundfreiheiten“ bei Graeber und Wengrow: den Ort wechseln können, wann immer man will, keinem Befehl gehorchen müssen und sich „zwischen verschiedenen sozialen Realitäten“ hin- und herbewegen können. Heute in einem Königreich, morgen in einem Rätesystem und übermorgen dort, wo noch niemand war (6). Vor allem dieser letzte Punkt hat es den beiden angetan: Wie konnte es passieren, „dass wir uns nicht einmal mehr die Möglichkeit vorstellen können, uns neu zu erfinden“ (7)?

Graeber, ein Anthropologe, und Wengrow, ein Archäologe, verwerfen den Gedanken, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit seien Produkte irgendeiner westlichen Tradition oder gar der großen Männer, die oft genannt werden, wenn es um solche Ideale geht. Hobbes und Rousseau, Platon, Konfuzius und Marx. „Besonders brillante Zwischenrufe“, nicht mehr und nicht weniger (8). Die Debatten seien überall geführt und auch dadurch inspiriert worden, dass andere anders lebten und zum Beispiel nicht verstehen konnten, dass sich die allermeisten unserer europäischen Vorfahren wie Sklaven herumkommandieren ließen. Wichtig ist hier das Wort Debatte. Sieben Sekunden: Mehr Zeit haben wir nicht, wenn wir „einen Gedanken festhalten oder ein Problem lösen“ wollen. Dann ist das „Fenster des Bewusstseins“ wieder zu — es sei denn, wir reden mit jemandem. Das kennen auch die, die nicht bis zum Zapfenstreich auf dem Barhocker bleiben: „Im Gespräch können wir, manchmal ohne Unterbrechung, stundenlang Gedanken festhalten und Probleme reflektieren.“ Und zwei Zeilen weiter: „Menschliches Denken ist von Natur aus dialogisch“ (9).

Roland Rottenfußer spricht in seinem Buch mit anderen Autoren — mit Natascha Kampusch zum Beispiel, die die Psychologie der Macht jahrelang aus nächster Nähe studieren konnte, oder mit Richard David Precht, der die Pflicht mitten in der Corona-Hysterie als „das Recht der anderen auf uns gepriesen“ und damit den Weg freigemacht hat zu einer Atmosphäre, die nicht nur den Maskenzwang guthieß, sondern auch die Verbannung jeden Widerspruchs und am Ende fast noch einen Stich für alle (10). Bei Rottenfußer steht Prechts Pflicht-Auslegung am Anfang des Kapitels „Die Gegenspieler der Freiheit“, in dem es auch um das Bedürfnis nach Sicherheit geht, um die Angst vor Viren, Terror und Umweltzerstörung, um Nudging, digitale Kontrolle und eine Linke, für die Freiheit oft nicht mehr ist als ein Sahnehäubchen.

Freiheit, das macht schon dieser Schnelldurchlauf klar, steht unter Druck. Wir neigen zu Gehorsam. Wir scheuen das Risiko. Wir mögen die Rebellen nicht, die uns sagen, dass wir unterdrückt werden.

Wir neigen oft selbst dazu, andere knebeln zu wollen — vor allem dann, wenn sie etwas tun, was uns stört. In der Kneipe rauchen. Schnell fahren. Krach machen. Roland Rottenfußer wirbt für ein Leben, das mehr ist als die bloße Existenz, das hinausweist über die eigenen Ängste. Notfalls mit weniger auskommen, sagt er. Auch mit weniger Menschen. „Ein einfaches Leben wählen“ und so alles reduzieren, was uns abhängig macht und manipulierbar (11). In sich gehen und dort nach etwas suchen, was über das Opportune, Effiziente, Machbare hinausgeht, etwas, das zwar in dieser Welt ist, aber nicht von ihr. Dafür nicht in jeden Kampf einsteigen. Nicht immer recht haben wollen. Im Zweifel verzichten auf Status, Macht, Ruhm.

Um das zu verstehen, muss man in die Psychologie der Macht eintauchen und in ihre Strategien. Bei Roland Rottenfußer ist Macht die „Möglichkeit, einen anderen Menschen dazu zu bringen, etwas zu tun, was er ursprünglich nicht tun wollte, oder etwas zu unterlassen, was er eigentlich ausführen wollte“ (12). Das meint nicht den Partner, der die Augenbrauen hebt, wenn man sich das dritte Stück Kuchen auf den Teller legen möchte, sondern den „Unwillen“, Freiheit zu respektieren und den anderen im Zweifel in Ruhe zu lassen. Destruktive Macht (13). Das Gegenstück von dem, was David Graeber und David Wengrow bei den Indigenen in Nordamerika preisen.

Für Roland Rottenfußer wurzelt Macht in Machtlust. Menschen wollen andere unterwerfen. Anders formuliert: Am Anfang stehen nicht Strukturen oder ominöse Zwänge, sondern Menschen, die nach einem Ersatz für Liebe suchen oder zu schwach sind, um sich Situationen zu stellen, über die sie keine Kontrolle haben.

Der Sadist braucht seine Opfer. Mithilfe eines spirituellen Bestsellers dreht Rottenfußer diesen Gedanken noch eine Schleife weiter. Der Kampf um Macht ist für ihn auch ein „Kampf um Lebensenergie“ (14). Nach jeder Niederlage fühlen wir uns ausgelaugt, nach jedem Beifall stark und frisch. Kontrolle minimiert in dieser Lesart den Energieverlust und maximiert den Gewinn.

Macht kann und wird sich deshalb nicht verstecken. Sie will gesehen werden. Tragt eine Maske, liebe Leute, selbst wenn ihr allein im Park umherlauft und es lange dunkel ist. Die drei Basisstrategien, um so etwas durchzusetzen: Überredung und Propaganda, Drohung, Zwang. Wir erinnern uns und wissen auch, dass die meisten versuchen, die Phasen zwei und drei zu vermeiden und sich an das anpassen, was die Leitmedien ihnen sagen — auch, weil am Ende Gewalt droht und damit Schmerz. Roland Rottenfußer sagt: Lasst uns darüber nachdenken, ob nicht das „Prinzip Strafen als Ganzes“ ein „unfassbarer Irrtum“ ist. Corona habe gezeigt, dass alles dazu dienen könne, „alles zu bestrafen“ (15). Es gibt bei ihm noch mehr von diesen Denkaufgaben. Schafft nicht erst die Regel den Verstoß? Was macht das Wissen um die Überwachung aus den Überwachten? Was hat der Glaube an den Mammon mit dem Gottesgnadentum von einst zu tun? Ist es wirklich richtig, dass jemand regiert? Wird dieser Jemand nicht immer eine Geschichte erfinden, die das für gut und richtig hält?

David Graeber haben solche Geschichten bis nach Madagaskar verfolgt. Er hörte dort als junger Mann von einem Piraten-Königreich und Piraten-Utopien, gelebt an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Daraus ist viel später ein Buch geworden. Untertitel: „Auf der Suche nach der wahren Freiheit“. Dass die Erzählungen der Alten viele Generationen überdauert haben, könnte mit der Gesprächskultur zu tun haben, um die sie sich drehen. Andere zu etwas zwingen, was sie nicht wollen? Schwer vorstellbar, wenn alles endlos debattiert wird und am Ende ein Konsens stehen soll — vor allem bei Fragen, „die für die gesamte Gemeinschaft von Belang waren“ (16).

Botschaft eins: Das Nachdenken über Freiheit ist älter als die europäische Aufklärung. Genau wie in seiner neuen Menschheitsgeschichte sieht Graeber die Aufklärung eher als Reaktion auf Ideen und Kritik, die von anderen Kontinenten nach Europa kamen, und errichtet so zugleich ein Bollwerk gegen Versuche, diesen Teil der Geistesgeschichte im Kampf gegen Rassismus, Imperialismus und überhaupt alles „Weiße“ zu entsorgen. Botschaft zwei: Eine Geschichtsschreibung, die sich auf Eliten konzentriert sowie auf die „Anhäufung von Reichtum und Macht“, übersieht zwangsläufig „Volksbewegungen oder intellektuelle Strömungen“, die David Graeber „Kosmologie, Werte, Bedeutung“ nennt (17) und die auch Roland Rottenfußer umtreiben, wenngleich unter anderen Begriffen.

Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie sehr uns das Schweigen über die Freiheit geschadet hat, muss man gar nicht so lange zurückgehen wie David Graeber und auch nicht so weit weg. Jörg Bong nennt seine Geschichte der deutschen Revolution 1848/49 „Die Flamme der Freiheit“. Man lernt bei Bong nicht nur, wie eine Opposition gespalten werden kann, wenn die Fleischtöpfe näher rücken, und wie schnell es sich rächt, wenn man die Brutalität der Macht unterschätzt, sondern wird auch daran erinnert, wie weit die „legendären Märzforderungen“ einst gingen. Ganz vorn, noch vor der „unbedingten Preßfreiheit“, vor den „Schwurgerichten nach dem Vorbilde Englands“ und vor einem Parlament: „Volksbewaffnung mit freien Wahlen der Offiziere“ (18). Ein „urdemokratischer Imperativ“, schreibt Jörg Bong.

Wer frei sein will, muss „wehrhaft“ sein (19). Wenn die Demokraten von Achtundvierzig gewonnen und eine solche „Volksarmee“ installiert hätten, wäre Roland Rottenfußer vielleicht nie auf die Idee gekommen, als „Freiheitsjournalist“ die Fundamente der Macht freizulegen.

„Für viele ist Freiheit eine Last“ - Punkt.PRERADOVIC mit Roland Rottenfußer

https://www.youtube.com/watch?v=8q3JF0fgaA8&t=443s


Am 27. März erscheint der neue Rubikon-Bestseller von Roland Rottenfußer. Hier können Sie das Buch vorbestellen: als Taschenbuch oder E-Book.


Klappentext:

Wenn jetzt nicht etwas Grundlegendes geschieht, dann war’s das mit der Freiheit. Und nicht die Angriffe ihrer Gegner werden ihr den Garaus machen — die Gleichgültigkeit derer, die sie so lange genossen, wird es tun.

Pandemien, Weltkrieg, Klimanotstand: Die Freiheit schwebt in höchster Gefahr. „Freiheitsgesäusel“? „Mehr Diktatur wagen“? Was ist kaputt in den Herzen und Köpfen der vielen, dass sie sich selbst und ihre Freiheit so geringschätzen, ja regelrecht verachten? Warum stimmen sie ihrer eigenen Entrechtung zu und scheinen in ihre Ketten geradezu verliebt?

Roland Rottenfußer zeigt: Wir sind Gefangene unserer Illusionen, Gefangene der Lügen und Strategien der Macht. Doch der Kaiser ist längst nackt, der Zauberer von Oz nur ein größenwahnsinniger Zwerg, der an Hebeln zieht. Erkennen wir, dass unsere Angst grundlos ist, fällt der Bann von uns ab und finden wir zurück in unsere Wahrheit und Kraft:

„Wäre die Freiheit eine Person, eine schöne Göttin — was würde ich ihr sagen? Vor allem eines: Verzeih uns! Verzeih uns diesen erbärmlichen, unwürdigen Verrat. Es wird nie wieder vorkommen. Von nun an werden wir besser für dich kämpfen.“

Rottenfußers Buch ist eine Liebeserklärung an die Freiheit und individuell-kollektive Revolutionsanleitung zugleich. Der Weg liegt vor uns, wir müssen ihn nur noch gehen. Ganz nach der Devise von Bertolt Brecht: „Wenn die Wahrheit zu schwach ist, sich zu verteidigen, muss sie zum Angriff übergehen.“


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Warum wir Freiheit brauchen“ bei der freien Medienakademie.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Roland Rottenfußer: Strategien der Macht. Wie die Eliten uns die Freiheit rauben und wie wir sie zurückgewinnen, Rubikon, München 2023, Seite 13
(2) Ebenda, Seite 12
(3) Ebenda, Seite 37
(4) Ebenda, Seite 280 bis 281. Originalzitat in David Graeber: Sind Sie Anarchist? Die Antwort könnte Sie überraschen! In: Neue Debatte, 18. Juni 2021
(5) David Graeber, David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, Klett-Cotta, Stuttgart 2022
(6) Ebenda, Seite 536
(7) Ebenda, Seite 21
(8) Ebenda, Seite 41
(9) Ebenda, Seite 112
(10) Rottenfußer, Macht, Seite 296. – Vergleiche Richard David Precht: Von der Pflicht. Eine Betrachtung, Goldmann, München 2021
(11) Rottenfußer, Macht, Seite 372
(12) Ebenda, Seite 57
(13) Ebenda, Seite 35
(14) Ebenda, Seite 89
(15) Ebenda, Seite 162, 164
(16) David Graeber: Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit, Klett-Cotta, Stuttgart 2023, Seite 105
(17) Ebenda, Seite 137
(18) Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit. Die deutsche Revolution 1848/49, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, Seite 98
(19) Ebenda, Seite 99

von Michael Meyen

Wir brauchen Freiheit!

01.04.2023 – Rubikon

Wir brauchen Freiheit!

Roland Rottenfußer zerlegt auf 400 Seiten die „Strategien der Macht“ und zeigt, wie er trotz alledem an den Menschen glauben kann.

Die Armee, schreibt der Rubikon-Chefredakteur im Vorwort seines neuen Buchs, habe ihn zu einem „Freiheitsjournalisten“ gemacht (1). Ich habe die Uniform nur wenig später anziehen müssen als er und kann das gut verstehen, obwohl ich auf der anderen Seite gedient habe. Militär ist Militär, überall auf der Welt. Ich habe vor Mittzwanzigern gezittert, die ein Bier zur Staatsaffäre aufblasen konnten, weil sie einen Stern auf den Schulterstücken trugen, und jeden Morgen gehofft, dass der Hauptmann, noch nicht einmal 30, auf der Toilette erfolgreich ist, weil das einen Unterschied machte für den Tag des Soldaten Meyen.

Roland Rottenfußer ist in seiner Bundeswehrkaserne auf Erich Fromm gestoßen und hat bei ihm in einer anderen Sprache das gefunden, was er schon vorher bei Friedrich Schiller gelesen hatte oder bei George Orwell. Der Corona-Politik wirft er heute, fast 40 Jahre später, vor allem vor, „gegen Grundsätze verstoßen“ zu haben, die von diesen großen Denkern „lange vorher in sehr plausibler, ja begeisternder Form beschrieben worden waren“ (2).

Mit seinem Buch stellt sich Rottenfußer selbst in eine Reihe mit Fromm, Schiller, Orwell. Plausibel, ja begeisternd: Wer die Texte dieses „Freiheitsjournalisten“ kennt, wird wissen, dass es bei ihm mindestens noch zwei weitere Ebenen gibt. Roland Rottenfußer verbindet akademisches Wissen mit Weltliteratur und Populärkultur. Theater, Rockmusik, Hollywood: Er springt von einer Bühne auf die nächste, ohne dem Leser das Gefühl zu geben, dass da ein Lehrer schreibt, der ohnehin alles besser kennt als seine Schüler. Die Schätze der Menschheit sind größer als die kleinteilige Münze, die in wissenschaftlichen Fachzeitschriften gehandelt wird. Roland Rottenfußer macht Lust, danach zu graben, dabei dem eigenen Geschmack zu vertrauen und einen Film auch dann großartig zu nennen, wenn Rezensionen etwas anderes sagen. Und, mindestens genauso wichtig: Er setzt einen Link zur Spiritualität — so wenig aufdringlich, dass auch eingefleischte Materialisten weiterlesen können.

Das sollten auch die tun, die Fromm, Schiller, Orwell kennen. Die Freiheit, sagt Roland Rottenfußer, war schon lange vor Corona kein Thema mehr, weder in den Leitmedien noch auf dem Buchmarkt. Der Westen, na klar: Das ist die freie Welt. Wer das tagein, tagaus hört, spricht über alles Mögliche, aber nicht über das einzige, was zählt. Rottenfußer: „Das weitgehende Schweigen über die Freiheit — es hat mit der Coronakrise, man könnte fast sagen: zum Glück, ein Ende gefunden.“

Seine Definition von Freiheit: „in Ruhe gelassen werden“ (3). Etwas ausführlicher ein paar Zeilen vorher: „das Erleben, unbehelligt zu sein von Zurechtweisung, Drangsalierung und Strafandrohung, solange man selbst die Grundlagen einer natürlichen Ethik nicht verletzt“ (3). Diese scheinbar klitzekleine Bedingung macht ein Fass auf, keine Frage. Was kann „natürlich“ sein an einer Ethik, die von Menschen gemacht wurde? Woher wissen wir, dass wir noch im Rahmen sind, wo doch jeder dazu neigt, genau das richtig und angemessen zu finden, was er selbst tut?

Roland Rottenfußer, so viel sei hier schon gesagt, traut uns sehr viel zu — vor allem dann, wenn wir auf destruktive Macht, Strafen und Gewalt verzichten.

„Anarchie“ steht bei ihm nicht für „Chaos und Bombenwerferei“, sondern für das Vertrauen in uns, in die Menschen. David Graeber, einer seiner Kronzeugen: „Anarchisten sind einfach Leute, die glauben, dass Menschen in der Lage sind, sich vernünftig zu verhalten, ohne dass man sie dazu zwingen muss. Das ist wirklich ein sehr einfacher Gedanke. Aber es ist einer, den die Reichen und Mächtigen immer als extrem gefährlich empfunden haben“ (4).

David Graeber hatte das Schweigen über die Freiheit mit einem Paukenschlag beendet — gewissermaßen aus dem Jenseits, denn er war schon tot, als das Buch „Anfänge“ 2021 zunächst auf Englisch erschien mit dem Versprechen, „eine neue Geschichte der Menschheit“ zu schreiben (5). Graeber und David Wengrow, sein Co-Autor, schauen zu den Indigenen nach Nordamerika und finden dort ein Freiheitskonzept, das nicht nach dem Recht fragt, sondern nach der Wirklichkeit. Konkret: Was hilft die Erlaubnis zu reisen, wenn das Geld fehlt? Wer wird dem Vorgesetzten widersprechen, wenn er einen Job braucht? Die „drei Grundfreiheiten“ bei Graeber und Wengrow: den Ort wechseln können, wann immer man will, keinem Befehl gehorchen müssen und sich „zwischen verschiedenen sozialen Realitäten“ hin- und herbewegen können. Heute in einem Königreich, morgen in einem Rätesystem und übermorgen dort, wo noch niemand war (6). Vor allem dieser letzte Punkt hat es den beiden angetan: Wie konnte es passieren, „dass wir uns nicht einmal mehr die Möglichkeit vorstellen können, uns neu zu erfinden“ (7)?

Graeber, ein Anthropologe, und Wengrow, ein Archäologe, verwerfen den Gedanken, Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit seien Produkte irgendeiner westlichen Tradition oder gar der großen Männer, die oft genannt werden, wenn es um solche Ideale geht. Hobbes und Rousseau, Platon, Konfuzius und Marx. „Besonders brillante Zwischenrufe“, nicht mehr und nicht weniger (8). Die Debatten seien überall geführt und auch dadurch inspiriert worden, dass andere anders lebten und zum Beispiel nicht verstehen konnten, dass sich die allermeisten unserer europäischen Vorfahren wie Sklaven herumkommandieren ließen. Wichtig ist hier das Wort Debatte. Sieben Sekunden: Mehr Zeit haben wir nicht, wenn wir „einen Gedanken festhalten oder ein Problem lösen“ wollen. Dann ist das „Fenster des Bewusstseins“ wieder zu — es sei denn, wir reden mit jemandem. Das kennen auch die, die nicht bis zum Zapfenstreich auf dem Barhocker bleiben: „Im Gespräch können wir, manchmal ohne Unterbrechung, stundenlang Gedanken festhalten und Probleme reflektieren.“ Und zwei Zeilen weiter: „Menschliches Denken ist von Natur aus dialogisch“ (9).

Roland Rottenfußer spricht in seinem Buch mit anderen Autoren — mit Natascha Kampusch zum Beispiel, die die Psychologie der Macht jahrelang aus nächster Nähe studieren konnte, oder mit Richard David Precht, der die Pflicht mitten in der Corona-Hysterie als „das Recht der anderen auf uns gepriesen“ und damit den Weg freigemacht hat zu einer Atmosphäre, die nicht nur den Maskenzwang guthieß, sondern auch die Verbannung jeden Widerspruchs und am Ende fast noch einen Stich für alle (10). Bei Rottenfußer steht Prechts Pflicht-Auslegung am Anfang des Kapitels „Die Gegenspieler der Freiheit“, in dem es auch um das Bedürfnis nach Sicherheit geht, um die Angst vor Viren, Terror und Umweltzerstörung, um Nudging, digitale Kontrolle und eine Linke, für die Freiheit oft nicht mehr ist als ein Sahnehäubchen.

Freiheit, das macht schon dieser Schnelldurchlauf klar, steht unter Druck. Wir neigen zu Gehorsam. Wir scheuen das Risiko. Wir mögen die Rebellen nicht, die uns sagen, dass wir unterdrückt werden.

Wir neigen oft selbst dazu, andere knebeln zu wollen — vor allem dann, wenn sie etwas tun, was uns stört. In der Kneipe rauchen. Schnell fahren. Krach machen. Roland Rottenfußer wirbt für ein Leben, das mehr ist als die bloße Existenz, das hinausweist über die eigenen Ängste. Notfalls mit weniger auskommen, sagt er. Auch mit weniger Menschen. „Ein einfaches Leben wählen“ und so alles reduzieren, was uns abhängig macht und manipulierbar (11). In sich gehen und dort nach etwas suchen, was über das Opportune, Effiziente, Machbare hinausgeht, etwas, das zwar in dieser Welt ist, aber nicht von ihr. Dafür nicht in jeden Kampf einsteigen. Nicht immer recht haben wollen. Im Zweifel verzichten auf Status, Macht, Ruhm.

Um das zu verstehen, muss man in die Psychologie der Macht eintauchen und in ihre Strategien. Bei Roland Rottenfußer ist Macht die „Möglichkeit, einen anderen Menschen dazu zu bringen, etwas zu tun, was er ursprünglich nicht tun wollte, oder etwas zu unterlassen, was er eigentlich ausführen wollte“ (12). Das meint nicht den Partner, der die Augenbrauen hebt, wenn man sich das dritte Stück Kuchen auf den Teller legen möchte, sondern den „Unwillen“, Freiheit zu respektieren und den anderen im Zweifel in Ruhe zu lassen. Destruktive Macht (13). Das Gegenstück von dem, was David Graeber und David Wengrow bei den Indigenen in Nordamerika preisen.

Für Roland Rottenfußer wurzelt Macht in Machtlust. Menschen wollen andere unterwerfen. Anders formuliert: Am Anfang stehen nicht Strukturen oder ominöse Zwänge, sondern Menschen, die nach einem Ersatz für Liebe suchen oder zu schwach sind, um sich Situationen zu stellen, über die sie keine Kontrolle haben.

Der Sadist braucht seine Opfer. Mithilfe eines spirituellen Bestsellers dreht Rottenfußer diesen Gedanken noch eine Schleife weiter. Der Kampf um Macht ist für ihn auch ein „Kampf um Lebensenergie“ (14). Nach jeder Niederlage fühlen wir uns ausgelaugt, nach jedem Beifall stark und frisch. Kontrolle minimiert in dieser Lesart den Energieverlust und maximiert den Gewinn.

Macht kann und wird sich deshalb nicht verstecken. Sie will gesehen werden. Tragt eine Maske, liebe Leute, selbst wenn ihr allein im Park umherlauft und es lange dunkel ist. Die drei Basisstrategien, um so etwas durchzusetzen: Überredung und Propaganda, Drohung, Zwang. Wir erinnern uns und wissen auch, dass die meisten versuchen, die Phasen zwei und drei zu vermeiden und sich an das anpassen, was die Leitmedien ihnen sagen — auch, weil am Ende Gewalt droht und damit Schmerz. Roland Rottenfußer sagt: Lasst uns darüber nachdenken, ob nicht das „Prinzip Strafen als Ganzes“ ein „unfassbarer Irrtum“ ist. Corona habe gezeigt, dass alles dazu dienen könne, „alles zu bestrafen“ (15). Es gibt bei ihm noch mehr von diesen Denkaufgaben. Schafft nicht erst die Regel den Verstoß? Was macht das Wissen um die Überwachung aus den Überwachten? Was hat der Glaube an den Mammon mit dem Gottesgnadentum von einst zu tun? Ist es wirklich richtig, dass jemand regiert? Wird dieser Jemand nicht immer eine Geschichte erfinden, die das für gut und richtig hält?

David Graeber haben solche Geschichten bis nach Madagaskar verfolgt. Er hörte dort als junger Mann von einem Piraten-Königreich und Piraten-Utopien, gelebt an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. Daraus ist viel später ein Buch geworden. Untertitel: „Auf der Suche nach der wahren Freiheit“. Dass die Erzählungen der Alten viele Generationen überdauert haben, könnte mit der Gesprächskultur zu tun haben, um die sie sich drehen. Andere zu etwas zwingen, was sie nicht wollen? Schwer vorstellbar, wenn alles endlos debattiert wird und am Ende ein Konsens stehen soll — vor allem bei Fragen, „die für die gesamte Gemeinschaft von Belang waren“ (16).

Botschaft eins: Das Nachdenken über Freiheit ist älter als die europäische Aufklärung. Genau wie in seiner neuen Menschheitsgeschichte sieht Graeber die Aufklärung eher als Reaktion auf Ideen und Kritik, die von anderen Kontinenten nach Europa kamen, und errichtet so zugleich ein Bollwerk gegen Versuche, diesen Teil der Geistesgeschichte im Kampf gegen Rassismus, Imperialismus und überhaupt alles „Weiße“ zu entsorgen. Botschaft zwei: Eine Geschichtsschreibung, die sich auf Eliten konzentriert sowie auf die „Anhäufung von Reichtum und Macht“, übersieht zwangsläufig „Volksbewegungen oder intellektuelle Strömungen“, die David Graeber „Kosmologie, Werte, Bedeutung“ nennt (17) und die auch Roland Rottenfußer umtreiben, wenngleich unter anderen Begriffen.

Um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie sehr uns das Schweigen über die Freiheit geschadet hat, muss man gar nicht so lange zurückgehen wie David Graeber und auch nicht so weit weg. Jörg Bong nennt seine Geschichte der deutschen Revolution 1848/49 „Die Flamme der Freiheit“. Man lernt bei Bong nicht nur, wie eine Opposition gespalten werden kann, wenn die Fleischtöpfe näher rücken, und wie schnell es sich rächt, wenn man die Brutalität der Macht unterschätzt, sondern wird auch daran erinnert, wie weit die „legendären Märzforderungen“ einst gingen. Ganz vorn, noch vor der „unbedingten Preßfreiheit“, vor den „Schwurgerichten nach dem Vorbilde Englands“ und vor einem Parlament: „Volksbewaffnung mit freien Wahlen der Offiziere“ (18). Ein „urdemokratischer Imperativ“, schreibt Jörg Bong.

Wer frei sein will, muss „wehrhaft“ sein (19). Wenn die Demokraten von Achtundvierzig gewonnen und eine solche „Volksarmee“ installiert hätten, wäre Roland Rottenfußer vielleicht nie auf die Idee gekommen, als „Freiheitsjournalist“ die Fundamente der Macht freizulegen.

„Für viele ist Freiheit eine Last“ - Punkt.PRERADOVIC mit Roland Rottenfußer

https://www.youtube.com/watch?v=8q3JF0fgaA8&t=443s


Am 27. März erscheint der neue Rubikon-Bestseller von Roland Rottenfußer. Hier können Sie das Buch vorbestellen: als Taschenbuch oder E-Book.


Klappentext:

Wenn jetzt nicht etwas Grundlegendes geschieht, dann war’s das mit der Freiheit. Und nicht die Angriffe ihrer Gegner werden ihr den Garaus machen — die Gleichgültigkeit derer, die sie so lange genossen, wird es tun.

Pandemien, Weltkrieg, Klimanotstand: Die Freiheit schwebt in höchster Gefahr. „Freiheitsgesäusel“? „Mehr Diktatur wagen“? Was ist kaputt in den Herzen und Köpfen der vielen, dass sie sich selbst und ihre Freiheit so geringschätzen, ja regelrecht verachten? Warum stimmen sie ihrer eigenen Entrechtung zu und scheinen in ihre Ketten geradezu verliebt?

Roland Rottenfußer zeigt: Wir sind Gefangene unserer Illusionen, Gefangene der Lügen und Strategien der Macht. Doch der Kaiser ist längst nackt, der Zauberer von Oz nur ein größenwahnsinniger Zwerg, der an Hebeln zieht. Erkennen wir, dass unsere Angst grundlos ist, fällt der Bann von uns ab und finden wir zurück in unsere Wahrheit und Kraft:

„Wäre die Freiheit eine Person, eine schöne Göttin — was würde ich ihr sagen? Vor allem eines: Verzeih uns! Verzeih uns diesen erbärmlichen, unwürdigen Verrat. Es wird nie wieder vorkommen. Von nun an werden wir besser für dich kämpfen.“

Rottenfußers Buch ist eine Liebeserklärung an die Freiheit und individuell-kollektive Revolutionsanleitung zugleich. Der Weg liegt vor uns, wir müssen ihn nur noch gehen. Ganz nach der Devise von Bertolt Brecht: „Wenn die Wahrheit zu schwach ist, sich zu verteidigen, muss sie zum Angriff übergehen.“


Redaktionelle Anmerkung: Dieser Beitrag erschien zuerst unter dem Titel „Warum wir Freiheit brauchen“ bei der freien Medienakademie.


Quellen und Anmerkungen:

(1) Roland Rottenfußer: Strategien der Macht. Wie die Eliten uns die Freiheit rauben und wie wir sie zurückgewinnen, Rubikon, München 2023, Seite 13
(2) Ebenda, Seite 12
(3) Ebenda, Seite 37
(4) Ebenda, Seite 280 bis 281. Originalzitat in David Graeber: Sind Sie Anarchist? Die Antwort könnte Sie überraschen! In: Neue Debatte, 18. Juni 2021
(5) David Graeber, David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit, Klett-Cotta, Stuttgart 2022
(6) Ebenda, Seite 536
(7) Ebenda, Seite 21
(8) Ebenda, Seite 41
(9) Ebenda, Seite 112
(10) Rottenfußer, Macht, Seite 296. – Vergleiche Richard David Precht: Von der Pflicht. Eine Betrachtung, Goldmann, München 2021
(11) Rottenfußer, Macht, Seite 372
(12) Ebenda, Seite 57
(13) Ebenda, Seite 35
(14) Ebenda, Seite 89
(15) Ebenda, Seite 162, 164
(16) David Graeber: Piraten. Auf der Suche nach der wahren Freiheit, Klett-Cotta, Stuttgart 2023, Seite 105
(17) Ebenda, Seite 137
(18) Jörg Bong: Die Flamme der Freiheit. Die deutsche Revolution 1848/49, Kiepenheuer & Witsch, Köln 2022, Seite 98
(19) Ebenda, Seite 99

von Michael Meyen


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