Leseprobe: Ami, its time to go  Ein Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas, von Oskar Lafontaine

Leseprobe: Ami, its time to go Ein Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas, von Oskar Lafontaine

19.11.2022 – Norbert Häring

20. 11. 2022 | Oskar Lafontaine meldet sich mit einer Wutrede voller inspirierender Ansichten und wichtiger Einsichten zurück. Er war Ministerpräsident des Saarlandes, Vorsitzender und Kanzlerkandidat der SPD, Bundesfinanzminister, Vorsitzender der Partei DIE LINKE und der Linksfraktion im Bundestag. Bis zu seinem Parteiaustritt im März 2022 führte er die Fraktion der Linken im saarländischen Landtag. Hier einige markante Auszüge.


Oskar Lafontaine: „Ami, it’s time to go – Plädoyer für die Selbstbehauptung Europas“ Westend. 64 S. 12€, eBook 9,99€

Ich hätte manchmal Lust, die Mitglieder der Bundesregierung zur Teilnahme an einem Seminar zu verpflichten, in dem sie dann alle auf einen Atlas schauen und Kreuzchen dort machen müssen, wo sich Militärstationen und Raketen befinden. Dann müssten sie ein Lineal nehmen, die Entfernung messen und angeben, welche strategisch wichtigen Ziele in welcher Zeit man von den Stützpunkten aus treffen kann. Das müssen sie anschließend dem Seminarleiter vorlegen, der prüft, ob sie das richtig angekreuzt haben. Vielleicht kämen Frau Baerbock und die übrigen US-Befehlsempfänger in Berlin auf einmal zu der Erkenntnis, dass nicht russische Truppen an der kanadischen Grenze stehen oder chinesische Raketen an der mexikanischen Grenze, sondern US-Truppen und US-Raketen in der Nähe der russischen Grenze.

Aber wenn man diese Leute reden hört, meint man wirklich, es sei umgekehrt. Da klingt es, als würden die Russen und Chinesen an den Grenzen der USA stehen – eine komplette Verdrehung der Realität! Als Reaktion auf die von mir hier dargelegte Kritik wird einem oft Anti-Amerikanismus unterstellt. Das ist ein immer wiederkehrendes Totschlagargument in der deutschen Debatte.

Ich habe aber sowohl für die USA als auch für Russland eine große Sympathie. Diese wurde nicht durch die Politiker der beiden Staaten vermittelt, sondern durch ihre Schriftsteller, Musiker, ihre bildenden Künstler, durch Begegnungen mit Amerikanern und Russen auf Reisen und durch Persönlichkeiten, die wie Michael Gorbatschow oder Martin Luther King Vorbildliches geleistet haben.

Bei allen Vorbehalten, eins muss man den US-Politikern lassen: Sie spielen zuweilen mit offenen Karten. Sie sagen doch, was sie wollen! Das ist oft genug nachzulesen, zum Beispiel auf den NachDenkSeiten, denen wir viel zu verdanken haben, denn sie berichten über vieles, was der Mainstream gerne unter den Tisch fällen lässt. So ist zum Beispiel George Friedman, ehemaliger Chef des Beratungsinstituts Stratfor, immer wieder zitiert worden. Er sagte, Ziel der US Politik seit 100 Jahren sei es, das Zusammenkommen von russischen Rohstoffen mit deutscher Technik zu verhindern. Das ist eine einfache Erklärung. Aber warum sind die deutschen Politiker so einfältig, das nicht zu begreifen? Die müssten doch im Gegenzug sagen: »Wenn die Amis das wollen, weil sie auch ein starkes Europa als Rivalen sehen und uns deshalb schwächen wollen, dann müssen wir entgegnen: ›Unser Ziel ist es aber, deutsche Technik mit russischen Rohstoffen zusammenzuführen.‹«

Selbst wenn man das alles nicht einsieht, dann möchte ich noch einmal neben der Kernthese, dass die aggressive Weltmacht USA kein Verteidigungsbündnis anführen kann, eine für die Zukunft Deutschlands wichtige Feststellung wiederholen: Wir werden unseren jetzigen Wohlstand ohne die russischen Rohstoffe nicht halten können, weil es für die russischen Rohstoffe in diesem Umfang schlichtweg keinen Ersatz gibt.

Robert Habeck, der keine Geschäfte mehr mit dem Autokraten Putin machen will, ist bekanntermaßen nach Qatar gereist, in ein Land, in dem Arbeitnehmer und Frauenrechte mit Füßen getreten werden, und hat um Gas gebettelt. Und dieses Trauerspiel nennt sich dann »feministische Außenpolitik« – man meint wirklich, man wäre im Irrenhaus! Mittlerweile weiß man, dass es mit dem Gas aus Qatar nichts wird.

Sogar in den USA sagte eine Ministerin neulich, man könne das US-Fracking-Gas nicht unbegrenzt nach Europa verkaufen, weil man es jetzt selbst brauche. Gleiches gilt für die Niederländer. Ursula von der Leyen, eine Spitzenpolitikerin aus Deutschland von der Qualität Annalena Baerbocks, war im Juli 2022 in Aserbaidschan und hat mit dem dortigen Präsidenten, dem »lupenreinen Demokraten« und »Hüter der Menschenrechte« Ilham Aliyev, ein Gasabkommen unterzeichnet. Daran sieht man, wie verlogen das alles ist. Aliyev ist auch ein Diktator, der einen verbrecherischen Angriffskrieg führt! Das scheint die westliche Wertegemeinschaft aber nicht zu stören.

Und noch etwas: Wir verurteilen – zu Recht – die korrupte Oligarchie in Russland und übersehen, dass die Ukraine ebenfalls eine korrupte Oligarchie ist. Selenskyj wurde von einem Oligarchen ins Amt gebracht und sein Name taucht in den Pandora Papers auf. Er hat Millionen ins Ausland gebracht und besitzt nach Presseberichten lukrative Wohnungen in London, in die er sich zurückziehen kann, wenn es nicht mehr so für ihn läuft. Und der nette Herr Biden ist über seinen Sohn Hunter in die krummen Geschäfte der ukrai­nischen Oligarchie verwickelt. Auch darüber schweigen unsere Medien in der letzten Zeit.

Vor dem Krieg wusste man noch von dem Asow-Bataillon, einer Art Nazi-Organisation, die jetzt zu einer Truppe verklärt wird, die einen heldenhaften Kampf für Freiheit und Demokratie führt. Man wusste noch, dass in Kiew Ultra-Rechte in der Regierung sitzen, waschechte Faschisten, die den Nazikollaborateur Bandera verehren, der für Morde an vielen Polen und Juden mitverantwortlich war. Über all diese Ungeheuerlichkeiten wurde vor wenigen Jahren noch geschrieben. Heute sind sie aus der medialen Berichterstattung weitestgehend verschwunden.

Dass die USA eine korrupte Oligarchie sind, hat schon der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter gesagt. Wenn ich mir die Frage stelle, warum diese korrupten Oligarchien miteinander Krieg führen, dann denke ich an ein Zitat des französischen Sozialisten Jean Jaurés: »Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.« Das ist ein wunderbares Bild: Eine Wirtschaftsordnung, die immer nur auf Expansion und mehr Gewinn ausgerichtet ist, geht irgendwann über Leichen. Das wusste schon Karl Marx, aber heute ist es der Papst in Rom, der immer darauf hinweist, dass diese Wirtschaft tötet.

Anmerkung N.H.: Das „immer darauf hinweist“ wäre hier besser zu ersetzen durch „zu Anfang seiner Papstzeit darauf hingewiesen hat“, bevor ihn nämlich die vatikanische Geldnot und das viele Geld der Großkonzerne schwach werden ließen, sodass  er sich seither auf das Loben der Vorzüge des Kapitalismus und die guten Intentionen der Kapitalisten verlegte.

In der Friedensbewegung hatten wir einst die »soziale Verteidigung« als Alternative zur militärischen Verteidigung diskutiert. Soziale Verteidigung hätte im Falle der Ukraine geheißen, die Ukraine wehrt sich nicht militärisch gegen den Einmarsch, sondern leistet gewaltfreien sozialen Widerstand, zum Beispiel in Form von Streiks.

Was wäre das Ergebnis gewesen? Statt der Marionetten-Regierung aus den USA hätte man jetzt eine Marionetten-Regierung aus Moskau, die Oligarchen würden weiterhin miteinander streiten, wer welche Geschäftsfelder hat, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Die Ukraine wäre nicht zerstört und viele Ukrainer und Russen wären nicht ums Leben gekommen. Ich erwähne das, um zum Nachdenken darüber anzuregen, ob diese Debatte über die soziale Verteidigung in der Friedensbewegung so dumm war.

Einst saß ich neben Heinrich Böll, Petra Kelly und Gerd Bastian vor dem US-Depot in Mutlangen, um gegen die Stationierung von US-Raketen in Deutschland zu demonstrieren. Wen ich heute daran denke, dass die Grünen ihre Stiftung immer noch Heinrich-Böll-Stiftung nennen, dann kriege ich Bauchkrämpfe. Böll war jemand, der sich als Kriegsheimkehrer zutiefst dem Frieden verpflichtet fühlte. Er war einer der Menschen, an denen wir Jüngeren uns damals aufgerichtet haben. Dazu zählte auch Willy Brandt, der sich im Gegensatz zu vielen anderen während der Nazizeit im Widerstand befand. Die Grünen könnten ihre Stiftung doch nach Madeleine Albright benennen oder nach Carl von Clausewitz, für den der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln war.

Es geht bei der Suche nach dem Weg zum Frieden nicht darum, die Guten und die Bösen auseinanderzuhalten. Es geht darum, Strukturen zu erkennen, die zum Frieden oder zum Krieg führen. Entscheidend ist, dass wir eine Macht haben, die mit großem Abstand die mächtigste Macht der Welt ist und mit zwei anderen Atommächten rivalisiert.

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Ich hätte manchmal Lust, die Mitglieder der Bundesregierung zur Teilnahme an einem Seminar zu verpflichten, in dem sie dann alle auf einen Atlas schauen und Kreuzchen dort machen müssen, wo sich Militärstationen und Raketen befinden. Dann müssten sie ein Lineal nehmen, die Entfernung messen und angeben, welche strategisch wichtigen Ziele in welcher Zeit man von den Stützpunkten aus treffen kann. Das müssen sie anschließend dem Seminarleiter vorlegen, der prüft, ob sie das richtig angekreuzt haben. Vielleicht kämen Frau Baerbock und die übrigen US-Befehlsempfänger in Berlin auf einmal zu der Erkenntnis, dass nicht russische Truppen an der kanadischen Grenze stehen oder chinesische Raketen an der mexikanischen Grenze, sondern US-Truppen und US-Raketen in der Nähe der russischen Grenze.

Aber wenn man diese Leute reden hört, meint man wirklich, es sei umgekehrt. Da klingt es, als würden die Russen und Chinesen an den Grenzen der USA stehen – eine komplette Verdrehung der Realität! Als Reaktion auf die von mir hier dargelegte Kritik wird einem oft Anti-Amerikanismus unterstellt. Das ist ein immer wiederkehrendes Totschlagargument in der deutschen Debatte.

Ich habe aber sowohl für die USA als auch für Russland eine große Sympathie. Diese wurde nicht durch die Politiker der beiden Staaten vermittelt, sondern durch ihre Schriftsteller, Musiker, ihre bildenden Künstler, durch Begegnungen mit Amerikanern und Russen auf Reisen und durch Persönlichkeiten, die wie Michael Gorbatschow oder Martin Luther King Vorbildliches geleistet haben.

Bei allen Vorbehalten, eins muss man den US-Politikern lassen: Sie spielen zuweilen mit offenen Karten. Sie sagen doch, was sie wollen! Das ist oft genug nachzulesen, zum Beispiel auf den NachDenkSeiten, denen wir viel zu verdanken haben, denn sie berichten über vieles, was der Mainstream gerne unter den Tisch fällen lässt. So ist zum Beispiel George Friedman, ehemaliger Chef des Beratungsinstituts Stratfor, immer wieder zitiert worden. Er sagte, Ziel der US Politik seit 100 Jahren sei es, das Zusammenkommen von russischen Rohstoffen mit deutscher Technik zu verhindern. Das ist eine einfache Erklärung. Aber warum sind die deutschen Politiker so einfältig, das nicht zu begreifen? Die müssten doch im Gegenzug sagen: »Wenn die Amis das wollen, weil sie auch ein starkes Europa als Rivalen sehen und uns deshalb schwächen wollen, dann müssen wir entgegnen: ›Unser Ziel ist es aber, deutsche Technik mit russischen Rohstoffen zusammenzuführen.‹«

Selbst wenn man das alles nicht einsieht, dann möchte ich noch einmal neben der Kernthese, dass die aggressive Weltmacht USA kein Verteidigungsbündnis anführen kann, eine für die Zukunft Deutschlands wichtige Feststellung wiederholen: Wir werden unseren jetzigen Wohlstand ohne die russischen Rohstoffe nicht halten können, weil es für die russischen Rohstoffe in diesem Umfang schlichtweg keinen Ersatz gibt.

Robert Habeck, der keine Geschäfte mehr mit dem Autokraten Putin machen will, ist bekanntermaßen nach Qatar gereist, in ein Land, in dem Arbeitnehmer und Frauenrechte mit Füßen getreten werden, und hat um Gas gebettelt. Und dieses Trauerspiel nennt sich dann »feministische Außenpolitik« – man meint wirklich, man wäre im Irrenhaus! Mittlerweile weiß man, dass es mit dem Gas aus Qatar nichts wird.

Sogar in den USA sagte eine Ministerin neulich, man könne das US-Fracking-Gas nicht unbegrenzt nach Europa verkaufen, weil man es jetzt selbst brauche. Gleiches gilt für die Niederländer. Ursula von der Leyen, eine Spitzenpolitikerin aus Deutschland von der Qualität Annalena Baerbocks, war im Juli 2022 in Aserbaidschan und hat mit dem dortigen Präsidenten, dem »lupenreinen Demokraten« und »Hüter der Menschenrechte« Ilham Aliyev, ein Gasabkommen unterzeichnet. Daran sieht man, wie verlogen das alles ist. Aliyev ist auch ein Diktator, der einen verbrecherischen Angriffskrieg führt! Das scheint die westliche Wertegemeinschaft aber nicht zu stören.

Und noch etwas: Wir verurteilen – zu Recht – die korrupte Oligarchie in Russland und übersehen, dass die Ukraine ebenfalls eine korrupte Oligarchie ist. Selenskyj wurde von einem Oligarchen ins Amt gebracht und sein Name taucht in den Pandora Papers auf. Er hat Millionen ins Ausland gebracht und besitzt nach Presseberichten lukrative Wohnungen in London, in die er sich zurückziehen kann, wenn es nicht mehr so für ihn läuft. Und der nette Herr Biden ist über seinen Sohn Hunter in die krummen Geschäfte der ukrai­nischen Oligarchie verwickelt. Auch darüber schweigen unsere Medien in der letzten Zeit.

Vor dem Krieg wusste man noch von dem Asow-Bataillon, einer Art Nazi-Organisation, die jetzt zu einer Truppe verklärt wird, die einen heldenhaften Kampf für Freiheit und Demokratie führt. Man wusste noch, dass in Kiew Ultra-Rechte in der Regierung sitzen, waschechte Faschisten, die den Nazikollaborateur Bandera verehren, der für Morde an vielen Polen und Juden mitverantwortlich war. Über all diese Ungeheuerlichkeiten wurde vor wenigen Jahren noch geschrieben. Heute sind sie aus der medialen Berichterstattung weitestgehend verschwunden.

Dass die USA eine korrupte Oligarchie sind, hat schon der ehemalige US-Präsident Jimmy Carter gesagt. Wenn ich mir die Frage stelle, warum diese korrupten Oligarchien miteinander Krieg führen, dann denke ich an ein Zitat des französischen Sozialisten Jean Jaurés: »Der Kapitalismus trägt den Krieg in sich wie die Wolke den Regen.« Das ist ein wunderbares Bild: Eine Wirtschaftsordnung, die immer nur auf Expansion und mehr Gewinn ausgerichtet ist, geht irgendwann über Leichen. Das wusste schon Karl Marx, aber heute ist es der Papst in Rom, der immer darauf hinweist, dass diese Wirtschaft tötet.

Anmerkung N.H.: Das „immer darauf hinweist“ wäre hier besser zu ersetzen durch „zu Anfang seiner Papstzeit darauf hingewiesen hat“, bevor ihn nämlich die vatikanische Geldnot und das viele Geld der Großkonzerne schwach werden ließen, sodass  er sich seither auf das Loben der Vorzüge des Kapitalismus und die guten Intentionen der Kapitalisten verlegte.

In der Friedensbewegung hatten wir einst die »soziale Verteidigung« als Alternative zur militärischen Verteidigung diskutiert. Soziale Verteidigung hätte im Falle der Ukraine geheißen, die Ukraine wehrt sich nicht militärisch gegen den Einmarsch, sondern leistet gewaltfreien sozialen Widerstand, zum Beispiel in Form von Streiks.

Was wäre das Ergebnis gewesen? Statt der Marionetten-Regierung aus den USA hätte man jetzt eine Marionetten-Regierung aus Moskau, die Oligarchen würden weiterhin miteinander streiten, wer welche Geschäftsfelder hat, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Die Ukraine wäre nicht zerstört und viele Ukrainer und Russen wären nicht ums Leben gekommen. Ich erwähne das, um zum Nachdenken darüber anzuregen, ob diese Debatte über die soziale Verteidigung in der Friedensbewegung so dumm war.

Einst saß ich neben Heinrich Böll, Petra Kelly und Gerd Bastian vor dem US-Depot in Mutlangen, um gegen die Stationierung von US-Raketen in Deutschland zu demonstrieren. Wen ich heute daran denke, dass die Grünen ihre Stiftung immer noch Heinrich-Böll-Stiftung nennen, dann kriege ich Bauchkrämpfe. Böll war jemand, der sich als Kriegsheimkehrer zutiefst dem Frieden verpflichtet fühlte. Er war einer der Menschen, an denen wir Jüngeren uns damals aufgerichtet haben. Dazu zählte auch Willy Brandt, der sich im Gegensatz zu vielen anderen während der Nazizeit im Widerstand befand. Die Grünen könnten ihre Stiftung doch nach Madeleine Albright benennen oder nach Carl von Clausewitz, für den der Krieg die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln war.

Es geht bei der Suche nach dem Weg zum Frieden nicht darum, die Guten und die Bösen auseinanderzuhalten. Es geht darum, Strukturen zu erkennen, die zum Frieden oder zum Krieg führen. Entscheidend ist, dass wir eine Macht haben, die mit großem Abstand die mächtigste Macht der Welt ist und mit zwei anderen Atommächten rivalisiert.

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Washingtons bester Mann im Auswärtigen Amt: Zwei Jahre „balancierte Partnerschaft“
13. 08. 2020 | In wenigen Tagen, am 22. August jährt sich zum zweiten Mal die erste Ausrufung einer deutschen „Strategie zum Umgang mit den USA“ durch Heiko Maas, genannt „balancierte Partnerschaft“. Von „roten Linien“ war darin die Rede.

Video Gespräch mit Marc Friedrich über Geopolitik und Corona im Endspiel des Kapitalismus
13. 01. 2022 | Marc Friedrich hat mit mir eine Stunde lang über die Themen meines Spiegel-Bestsellers „Endspiel des Kapitalismus“ gesprochen. Ich beschreibe u.a. was die Konkurrenz der USA mit China um die Vorherrschaft mit der Corona-Politik zu tun hat, und entwickle eine marktwirtschaftliche und soziale Alternative zum Kapitalismus, der auf den Kollaps zusteuert.

Der Papst heiligt die Mittel: Zwei Jahre Rat für inklusiven Kapitalismus beim Vatikan
Hören | 23. 10. 2022 | Der Council for Inclusive Capitalism with the Vatican wird zwei Jahre alt. Bietet Papst Franziskus nach seinem „Diese Wirtschaft tötet“ nun den Großkapitalisten eine spirituelle Plattform zur billigen Imagepflege? Oder sind die Selbstverpflichtungen der Konzernchefs tatsächlich ernst gemeinte Versuche, die Welt besser zu machen? Werfen wir einen Blick darauf.

Buchbesprechung: „Endspiel Europa“ von Guérot/Ritz.
19. 11. 2022 | Im Ukraine-Krieg wird die Zukunft Europas ausgefochten. Um zu verstehen, welche Interessen hier auf dem Spiel stehen und wie sie auf das Friedensprojekt Europa einwirken, reicht es nicht, das oberflächliche Kriegsgeschehen zu beobachten. Nur über ein Verständnis der Ursachen dieses Krieges ist es möglich, ein dauerhaftes Scheitern Europas zu vermeiden.

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